In 2014 brach Goethes Erben
das jahrelange Schweigen, worin die theatralischen Avantgardisten seit 2006 gehüllt
waren, als die Band für unbestimmte Zeit eine Pause einlegte. Es folgten Konzerte und ein Musiktheater, aber
mit 'Am Abgrund' gibt es jetzt auch das erste Studioalbum seit 12 Jahren. „Zu
lang geschwiegen“, klingt es auf der neuen CD. Es handelt sich nicht so sehr um
die musikalische Pause. Es geht um Politik, um die fehlende Menschlichkeit, um
die Verhärtung der Gesellschaft und nicht zuletzt, um die Antwort, die wir liefern.
Wir haben Mastermind Oswald Henke gesprochen...
‚Am Abgrund’ ist das erste, neue Studio-Album seit der Wiederkehr von Goethes
Erben in 2014. Du hattest vor einigen Jahren gesagt, es wäre zu gefährlich,
heutzutage noch physische Tonträger zu veröffentlichen. Warum hast du dich dann
dafür entschieden, eine neue CD zu machen?
Oswald Henke: Ich habe nicht gesagt,
dass es gefährlich wäre, sondern wenig sinnvoll, da der Markt für physische
Tonträger de fakto ausstirbt. Wir haben aber die Live-Version von
"Rückkehr ins Niemandsland" zum 25 jährigen Jubiläum von Goethes
Erben als Live DVD veröffentlicht sowie auch "Menschenstille" als
Live-Version auf DVD und CD. Weiterhin gibt es Goethes Erben nicht nur rein „virtuell“,
als MP3 Downloads oder als Streaming. Ich bin der Meinung, dass dieser
immaterielle Konsum von Musik kaum noch mit einer Wertschätzung der
eigentlichen Musik und des Künstlers verbunden ist. Insbesondere durch
Streaming besteht auch die Gefahr, dass irgendwann, irgendwo eine Zensur
stattfinden kann, denn, wenn man etwas nicht wirklich besitzt kann auch der
Zugang dazu verhindert werden. Nur mit eigens gekauften Tonträgern, weiß man dass
man, wann immer man will, seine Musik hören kann, unabhängig von kurzlebigen Abspielgeräten oder vom Onlinezugang.
Außerdem ist mir die Haptik
wichtig. Eine Schallplatte in den Händen zu halten, die Hülle zu fühlen und zu
lesen, das macht das Ganze etwas wertiger. Ich bin so einer, der z.B. ganz
genau weiß wo die LP, die ich in der Zeit meiner ersten großen Liebe hörte, in
meinem Regal steht, oder wo mein erster Tonträger steht, den ich vor
Jahrzehnten gekauft habe. Leider wird die Musik heutzutage oftmals nur noch als
akustischer Bildschirmschoner verstanden.
Warum wir jetzt ein neues
Album veröffentlicht haben? Ganz einfach, wir hatten etwas mitzuteilen und aus
dem Grund haben wir „Am Abgrund“ veröffentlicht. Wir müssen keine Verträge
erfüllen, wir haben das Album gemacht weil wir es wollten und der Meinung waren,
wir haben das tiefe Bedürfnis uns mitzuteilen, unsere Gedanken zu teilen. Aus
diesem Grund haben wir „Am Abgrund“ als CD bzw. LP veröffentlicht.
2015 hast du ‚Menschenstille’ inszeniert, ein sehr dunkles Musiktheater, basiert auf deiner Gedichtsammlung ‚Narbenverse’, das nach dem Selbstmord eines Freundes geschrieben wurde. Was wolltest du mit diesem Stück ausdrücken?
In dem Musiktheaterstück
„Menschenstille“ habe ich versucht, das Thema Suizid zu erklären und zwar aus
unterschiedlichen Blickwinkeln. Ich habe versucht für mich persönlich zu
erklären, wieso ein Mensch den Freitod wählt, obwohl er z.B. nicht todkrank ist,
was ich als Grund verstehen würde um würdevoll sterben zu wollen. Das Thema ist
aber sehr komplex und es gibt keine allgemeingültige Antwort. Am Ende stand für
mich nur eines fest: „Leben ist die Option auf Alles, wenn man will“. Und darum
geht es. Das Thema ist einfach zu privat, als das man es auch nur annähernd
allgemeingültig bewerten oder beantworten könnte. Es geht einfach darum, wie
sehr man das eigene Leben wertschätzt und was es für einen persönlich bedeutet,
wenn das Leben beeinträchtigt wird und dadurch wertlos erscheint. Für mich ist
Suizid etwas, was jedem in Eigenverantwortung obliegen muss, aber ich finde
jeder Mensch sollte sich genau überlegen, was so eine persönliche Tat auch für
Auswirkungen auf das Leben anderer Menschen hat. Was bedeutet es für die
Überlebenden, die Familie, die Lebenspartner und Freunden?
Ich habe das Gefühl, dass psychische Erkrankungen und Depressionen auch bei
‚Am Abgrund’ sehr präsent sind. Ist ‚Am Abgrund’ thematisch mit
‚Menschenstille’ verbunden? Was ist das übergreifende Thema zu ‚Am Abgrund’?
„Am Abgrund“ hat nicht wirklich
einen direkten Bezug zu „Menschenstille“ aber am Ende ist alles was ich mache
irgendwie miteinander verbunden, denn ich schreibe grundsätzlich über meine
Gefühle und auch über meine Sicht der Dinge, die mich eben gesellschaftlich,
sozial oder politisch stören. Kunst hat in meinen Augen eine Gewissensfunktion
in einer Gesellschaft, sie kann hinweisen und zum nachdenken anregen aber keine
Lösungen bieten. „Am Abgrund“ hat eine introvertierte Seite, „Es ist still“,
„Denn es ist immer so“, aber auch sehr extrovertierte, zornige Stücke, „Darwins
Jünger“ oder „Lazarus“ und dann Stücke die beides verbinden „Zu lang
geschwiegen“ oder „Verstümmelung“. Thematisch hat die Sammlung der Stücke aber
nichts mit „Menschenstille“ zu tun. „Am Abgrund“ ist kein Musiktheaterstück
sondern eine Sammlung von Fragmenten. „Menschenstille“ war eine
Liveinszenierung, ein Musiktheaterstück, „Am Abgrund“ ein Studioalbum im
klassischen Sinne. Vielleicht sind die introvertierten
Stücke eben jene, die viele Fans mit der „Trilogie“ in Verbindung bringen, aber
natürlich ist auch „Das Ende“ zornig, aber eben auf andere Art und Weise wie
„Darwins Jünger“.
Am Ende ist eine Depression
eine Krankheit aus dem man ohne Hilfe nicht mehr herauskommt. "Am
Abgrund" handelt dahingegen von Gefühlswelten die man noch selbst
beeinflussen und verändern kann. Es ist somit zwar düster und melancholisch
aber auch klar selbstbestimmt im Handeln. Die Sprachlosigkeit ist eher
gesellschaftspolitisch, wir leben in einer Welt, die wieder kleiner wird. Man
spricht von Postfakten und Politiker lügen bewusst und sprechen Fakten ihre
Richtigkeit ab, das ist das Problem, die Welt steuert auf eine Depression zu,
aber wir als Menschen haben die Möglichkeit das nicht zu akzeptieren und es für
uns zu verändern. Natürlich kann man als Individuum nicht die Welt von heute
auf morgen verändern, aber man kann damit anfangen und eben mit den kleinen
Dingen beginnen.
Als ,Lazarus’ veröffentlicht wurde, hattest du ein neues Musiktheater mit dem Titel ‚Meinungsstörung’ angekündigt. Ist ‚Am Abgrund’ aus dieser Idee entstanden? Wird es ein neues Musiktheater geben?
„Meinungsstörung“ ist ein
Musiktheaterstück und ein Teil der Musik aus diesem Musiktheaterstück wurde auf
„Am Abgrund“ in Studiofassungen veröffentlicht, also aus dem Kontext gerissen.
„Lazarus“, „Darwins Jünger“ oder „Verstümmelung“ sind Szenen aus diesem
Musiktheaterstück. Da aber Musiktheaterstücke schwierig zu finanzieren sind,
was ich bei „Menschenstille“ wieder einmal feststellen musste, werde ich
vorerst das neue Stück nicht live umsetzen. Mir ist das finanzielle Risiko zu groß,
also wird „Meinungsstörung“ 2019 erst einmal als Buch erscheinen. Ob ich es als
Musiktheaterstück umsetze? Vielleicht, irgendwann, irgendwo...
‚Lazarus’ befasst sich mit der Reaktion auf die Flüchtlingskrise, ‚Darwins
Jünger’ mit der Aufteilung von Menschen in schwach und stark, ‚Rot’ mit
Kindesmissbrauch. Sicherlich ist ‚Am Abgrund’ sehr politisch. Siehst du einen
Zusammenhang zwischen dem ‚Scheitern der Menschheit’ worüber du singst und der
Zunahme von Depressionen?
„Rot“ handelt nicht von
Kindesmissbrauch sondern von Missbrauch und Manipulation allgemein, denn jeder
Mensch wird im Laufe seines Lebens von allem um ihn herum beeinflusst und
deformiert. Egal ob es die eigene Familie ist, Freunde, Bekannte, Medien, Politiker
etc. alles wirkt in irgendeiner Form auf unsere eigene Meinungsbildung. Wir
werden somit in unserer Meinung gestört. – „Meinungsstörung“ handelt von den
unterschiedlichsten Aspekten dieser Meinungstransformation. Aber auch vom
Individuum das in diesen Mechanismen versucht zu leben, zu überleben oder
scheitert...
Die Welt ist depressiv, aber
eigenartigerweise jammern die am lautesten, die nicht auf einer Flucht
ertrinken oder in ihrer Heimat erschossen oder gefoltert werden oder einfach
nur verhungern weil sie in einer Region geboren wurden, die nicht privilegiert
war oder ist.
In ‚Denn es ist immer so’ verweist du auf ältere Songs von Goethes Erben,
insbesondere von den ersten drei Alben von Goethes Erben - die Trilogie -, die
jetzt als Vinyl-Box veröffentlicht werden. Sind ‚Menschenstille’ und ‚Am
Abgrund’ in gewisser Weise mit der Trilogie verbunden?
Ich denke der komplette
textliche und musikalische Kosmos von Goethes Erben ist miteinander verbunden
und das ist, denke ich auch, die Stärke von Goethes Erben. „Denn es ist immer
so“ ist die Erben Geschichte konzentriert auf ein Lied.
Ein introvertierter Rückblick,
aber nicht nur auf die Trilogie sondern auf das komplette Werk davor. „29 Jahre
Goethes Erben“.
‚Wir sind alle alt geworden’, singst du in ‚Denn es ist immer so’. In der Tat hat sich die Goth-Szene verändert und sie ist gealtert, seit ihr zu Beginn der 90er Jahre eine der führenden Bands der Neuen Deutschen Todeskunst wart. Kann Gothic noch junge Leute anziehen? Was denkst du über das Altern der Goth-Kultur?
Das Problem ist, das ich
vielen heutigen Bands aus der sogenannten Gothic Szene nicht das abnehme was
sie machen. Manchmal hat man das Gefühl das hier „Gebrauchsgothic“
veröffentlicht wird, Klischees über Inhalte gestellt werden und Musik nur zum
Selbstzweck ohne Anspruch an sich selbst gemacht wird. Aus dem Grund ist die
Szene auch verwässert, denn es gibt kaum noch Menschen, insbesondere unter den
Jüngeren, die diese Szene auch leben und nicht nur als Maske vor sich her tragen
und sich zum Wochenende „kostümieren“. Schwarz sein ist eine Lebenseinstellung,
die sicher auch etwas mit Optik zu tun hat aber auch mit einem Lebensgefühl,
das eben nicht den Normen entspricht, die eine Gesellschaft von ihren folgsamen
Mitbürgern erwartet. Am Ende sind meine schwarzgefärbten Haare und die Art und
Weise wie ich lebe und was ich mitteile ein Protest gegen das was mich an der
Welt stört. So sage ich Nein! Ich gehöre nicht zu Euch, ich stehe am Rand und
beobachte euch Buntmenschen, aber auch die Menschen die sich gerne schwarz
kleiden weil es schick ist und man damit provozieren kann.
Nur provozieren ist mir zu
wenig, ich will am Ende auch irgendetwas mit meinem Leben bewirken und wenn es
nur das ist, das ich mit meinen Texten und der Musik Menschen erreiche, die
sich verstanden fühlen und so eben nicht allein sind oder fühlen. Ich bin oft
traurig darüber wie sich die Gesellschaft zurückentwickelt und die
Errungenschaften der Aufklärung vergisst oder als Postfakten vergewaltigt und
verbrennt. Die Menschheit verroht immer mehr, sowohl in der Sprache als auch in
der Fähigkeit, empathisch miteinander umzugehen. Aber das ist kein Problem von
jung oder alt, das ist ein Problem der Menschen an sich. Ich mag denkende
Menschen, die sich eigene Meinungen bilden können, die offen sind, die fühlen
können und die sich auch auf einem Konzert von Goethes Erben ihrer Tränen nicht
schämen müssen, da sie angekommen sind. Das Alter spielt keine Rolle. Ich denke
Goethes Erben ist zu alt um noch wirklich junge Leute in der Breite
anzusprechen, aber auch das ist nicht ausgeschlossen. Was ich mache ist ein
Angebot, entweder man möchte sich mit meiner Musik und den Texten auseinander
setzen oder lässt es eben bleiben. Ignoranz gab es auch schon vor 25 Jahren in
dieser Szene. Aber ich denke auch, es ist nicht schlimm wenn jemand mit Goethes
Erben nichts anfangen kann, ich kann auch mit vielen Dingen nichts anfangen.
Die Neue Deutsche Todeskunst war eine Bewegung, die sehr unterschiedliche Bands vereinte. Gab es einen gemeinsamen Nenner der Bewegung, und würdest du zustimmen, dass die wichtigsten Bands nach 1994 weiter entwickelten und das Genre verlassen haben?
„Neue Deutsche Todeskunst“ war
ein Begriff der Musikpresse, ich finde ein sehr einseitiges Label, denn wir
haben uns nie nur mit dem Tod beschäftigt, sondern mit dem ganzen Menschen und
seinen unterschiedlichsten Gefühlswelten. Natürlich eher mit den dunklen
Gefühlen und mehr realistisch pessimistisch als euphorisch.
1993 arbeiteten die drei größten Projekte in der Neuen Deutschen Todeskunst
- Goethes Erben, Lacrimosa und Das Ich - gemeinsam an ‚Lycia’ von Christian
Dörge. Verschiedene Teilnehmer, auch du, waren von diesem Projekt frustriert.
Was ist schief gelaufen?
Die Stücke sind gut, nur die
finale Abmischung der Stücke im Studio bei der ich dann am Ende nicht anwesend
war, ist leider nicht so geworden wie ich es mir vorgestellt hatte. Es war eben
kein Teamwork, das ist die Tragik.
April 2019 wird Goethes Erben wieder auf dem Black Easter-Festival in
Belgien auftreten. Was können wir erwarten?
Oswald Henke: Wie immer bei
Festivals spielen wir uns durch die unterschiedlichen Kapitel der Erben
Geschichte.
Bilder: Xavier Marquis
Goethes Erben
Black Easter Festival mit Goethes Erben, Daemonia Nymphe, The Breath Of Life, Evi Vine, Hackedepicciotto, Jo Quail...
Bilder: Xavier Marquis
Goethes Erben
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